Tickt die biologische Uhr wirklich? Kinderwunschärztin Dr. Nadine Al-Kaisi gibt Antworten

Eine Frau mit Kinderwunsch hält eine große Uhr.
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Die Zeiten, in denen Frauen mit Anfang 20 in die Familienplanung einstiegen, sind lange vorbei. Das Durchschnittsalter von Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes liegt in Deutschland bei 30,2 – Tendenz steigend. Bis wann ist es möglich, den eigenen Kinderwunsch zu erfüllen und welche Rolle spielt die „tickende Uhr“ aus medizinischer Sicht? Dr. Nadine Al-Kaisi ist Kinderwunschärztin und verrät im fertilitips-Interview, welchen Einfluss das Alter auf die Fruchtbarkeit hat und warum sie ab 30 Jahren zum Eizellen-Check rät.

Liebe Frau Dr. Al-Kaisi, wir sprechen heute über die Rolle des Alters bei einem Kinderwunsch. Man hört als Frau ja oft den Spruch, dass die „biologische Uhr tickt“ – ist da aus Ihrer medizinischen Sicht etwas Wahres dran?

Ich bin der Meinung, dass man sich zumindest mit dem Alter auseinandersetzen sollte, wenn man sich Kinder wünscht. Wer über die eigenen Möglichkeiten und Optionen, die es gibt, informiert ist, kann bewusste Entscheidungen treffen. Zunächst ist es ja jeder Person selbst überlassen, ob sie sich Kinder wünscht – aber wenn der Wunsch vorhanden ist, spielt das Alter in jedem Fall eine Rolle. Und da gibt es auch in der Kinderwunschmedizin Grenzen, deshalb würde ich mir wünschen, dass Frauenärzt:innen ab dem 30. Geburtstag das Thema einmal ansprechen.

Ab dem 30. bereits? Das wird sicher viele Leserinnen überraschen. Und was sollte man dann tun?

Der Arzt oder die Ärztin kann überprüfen, wie die Eizellreserve ist – das lässt sich im Labor mit einem bestimmten Wert feststellen. So könnte man die Frauen herausfiltern, die eine niedrige Eizellreserve haben und sie eventuell auf das Thema Social Freezing ansprechen. Zum Beispiel, wenn zwar ein Kinderwunsch besteht, aber der passende Partner fehlt. Oder man bespricht, den Stand mit 33 oder 35 Jahren noch einmal anzusehen. 

Es ist einfach so, dass mit 35 die Fruchtbarkeit der Frauen sinkt und es mit 40 noch einmal eine gravierende Verschlechterung gibt.

Das ist bei vielen Frauen einfach überhaupt nicht in den Köpfen, weil uns lange suggeriert wurde, dass wir alle Zeit der Welt haben. Ich glaube, da wollte die Gesellschaft den Frauen einfach mal etwas Druck nehmen – was ja grundsätzlich auch schön ist. Aber wir spüren jetzt die Folgen und es ist zum Beispiel so, dass einige Kinderwunschzentren Frauen ab 43 Jahren gar nicht mehr annehmen, weil die Wahrscheinlichkeit für eine Schwangerschaft so gering ist und eine Behandlung dann nicht mehr sinnvoll ist.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass wir heute später Kinder bekommen als früher?

Einerseits kommt es durch die Ausbildung und den Start in den Job. Wir Frauen stehen jetzt stärker mitten im Leben als früher, viele von uns sind erfolgreich und wollen Karriere machen – dadurch ist alles etwas mehr nach hinten gerückt. Gleichzeitig gibt es in den Medien viele Stars, die das Gefühl vermitteln, es sei überhaupt kein Problem, in eher fortgeschrittenem Alter ein Kind zu bekommen. Sie verkünden dann ihre Schwangerschaft mit Anfang 40, doch kaum jemand sagt dazu, dass es nur mit künstlicher Befruchtung geklappt hat. Auch wenn das dank Social Media gerade zum Glück etwas besser wird und die Offenheit rund ums Thema wächst.

Ist das Alter ein zentraler Faktor bei den Patientinnen, die Sie auf dem Weg zum Kinderwunsch begleiten? Kommen viele zu Ihnen, weil sie vergleichsweise spät anfangen?

Das ist ein Faktor, ja. Das Durchschnittsalter von Frauen, die in ein Kinderwunschzentrum gehen, liegt mittlerweile bei 38 Jahren und wir wissen wie gesagt einfach, dass die Fruchtbarkeit dann nachlässt.

Können Sie dann trotzdem helfen? In der heutigen Zeit gibt es ja so viele wissenschaftliche Fortschritte und Möglichkeiten – da gehen sicher viele Menschen davon aus, dass das auch für den Kinderwunsch gilt…

Wir haben schon gute Erfolge: Wenn Paare bei uns in Behandlung sind und bis zu sechs Versuche durchführen, sind 70 Prozent von ihnen am Ende schwanger. Trotzdem würde ich sagen, dass das Alter und damit verbunden die Eizellreserve einer der entscheidenden Faktoren ist, wie erfolgreich wir mit unserer Arbeit sind. Deshalb möchte ich noch einmal auf Social Freezing blicken: Dabei geht es auch darum, eine Option offenzuhalten. Wer mit 30 Jahren Eizellen einfrieren lässt, hat eine Art Versicherung – auch wenn die Person die Familienplanung erst mit 40 Jahren angehen möchte. In jedem Fall bleibt so die Möglichkeit, selbst eine Entscheidung zu treffen. Und das finde ich am Wichtigsten: Dass Frauen individuell entscheiden können, wie sie mit ihrer Fruchtbarkeit umgehen.

Eine Frau hält ein 30 in den Himmel.

Wie läuft es ab, wenn sich eine Frau für Social Freezing entscheidet, um sich für die Zukunft abzusichern?

Es geht darum, vielversprechende Eizellen zu identifizieren und zu entnehmen. Dafür stimulieren wir zunächst mit einer Hormonspritze die Follikel und entnehmen Eier, die am besten reagieren, zum Eisprung hin – und dann frieren wir sie ein. Da man eine gewisse Anzahl an Eizellen braucht, reicht meistens ein Zyklus nicht aus, eher führt man das drei Zyklen in Folge durch. Sobald einmal genügend Eizellen in Stickstoff eingefroren sind, haben sie auch kein Verfallsdatum.

Wenn das geschehen ist, ist das Alter der Frau später egal?

Theoretisch ja, es wäre sogar möglich, eine Schwangerschaft nach der Menopause zu erzeugen, wenn sich die Frau einer Hormonbehandlung unterzieht. Aber da ist natürlich die Frage, ob man das Risiko eingehen möchte. Mit zunehmendem Alter steigen natürlich die Schwangerschaftsrisiken, die Gebärmutter ist nicht mehr auf eine Schwangerschaft eingestellt, damit sinken die Chancen, dass alles glatt läuft. Aber theoretisch gibt es nach oben hin keine Grenzen, es ist auch in Deutschland kein Maximalalter für die Behandlung vorgeschrieben.

Und was kostet es, die eigenen Eizellen einfrieren zu lassen?

Das kommt immer auf die Dosis der Medikamente an und darauf, wie viele Zyklen man braucht. Grob muss man mit 3000 Euro je Zyklus rechnen, bei drei Zyklen wären es also 9000 Euro. Dann kommen später noch die Kosten für die Befruchtung mit dem Spermium dazu, aber das ist im Vergleich eher der kleinere Kostenpunkt.

Bei dieser Summe ist es also nichts, was jede Frau einfach mal auf Vorrat macht, um später auf der sicheren Seite zu sein.

Nein, das sicher nicht. Mir ist es trotzdem wichtig, dass Frauen darüber Bescheid wissen. Eine andere Möglichkeit ist es, ab dem 30. Lebensjahr etwa alle drei Jahren die Eizellreserve zu überprüfen und immer wieder abzuwägen – einfach, um das im Blick zu behalten. Das ist es, was ich am Anfang meinte: 

Ich finde es wichtig, dass Frauen sich damit auseinandersetzen, dass sie ihren Körper kennen und ihre eigene Fruchtbarkeit einschätzen können. 

Ich erlebe es wirklich oft, dass Frauen mit 38 Jahren ins Kinderwunschzentrum kommen und zu diesem Zeitpunkt schon zwei, drei Jahre erfolglos probiert haben, schwanger zu werden. Sie sind oft frustriert oder wütend, wenn wir über die nachlassende Fruchtbarkeit sprechen und oft höre ich: „Warum hat mir das nie jemand gesagt?“

Es ist ja möglich, mit einem gesunden Lebensstil das biologische Alter zu beeinflussen, sodass es unter dem biografischen Alter liegt. Der Körper wirkt in Untersuchungen also jünger, als er eigentlich ist. Welchen Einfluss hat das auf einen Kinderwunsch?

Die Lebensführung beeinflusst natürlich die Fruchtbarkeit: Alkohol oder Nikotin sind Zellgifte, die wir unserem Körper zuführen und die den Eizellen schaden. Auch Übergewicht ist ein Faktor, gesunde Ernährung stärkt die Fruchtbarkeit. Es sind eigentlich die Klassiker, die grundsätzlich für ein gesundes Leben gelten. Speziell bei Kinderwunsch kommen dann noch Nahrungsergänzungsmittel hinzu, die sinnvoll sein können – wie Zink, Vitamin D oder Folsäure. Das alles kann die Erfüllung eines Kinderwunschs positiv beeinflussen, gleichzeitig muss man sagen: Wir bekommen unsere Eizellen bereits bei der Geburt mit – sie sind also grundsätzlich so alt wie wir und das können wir nicht ändern. Es sei denn, man geht sehr schlecht mit ihnen um, dann altern sie noch schneller.

Spielt eigentlich auch das Alter der Männer eine Rolle?

Auch bei ihnen lässt die Qualität der Spermien mit dem Alter nach – allerdings haben sie etwas mehr Zeit als Frauen. Hier ist der Vorteil, dass die Spermien immer neu gebildet werden und nicht wie die Eizellen mit der Geburt angelegt sind. Das heißt, Spermien haben nicht so einen extremen Alterungsprozess, doch je älter Männer sind, desto häufiger gibt es sogenannte DNA-Brüche. Die Spermien haben eine schlechtere Qualität und das Risiko von Fehlgeburten steigt. Ich würde sagen, dass es etwa ab 50 Jahren schwieriger wird, auch wenn die Spermienqualität stark vom Lebensstil beeinflusst wird. Und auch hier möchte ich wieder keine Angst erzeugen – sondern für Aufklärung und einen bewussten Umgang mit der eigenen Fruchtbarkeit sorgen.

Nehmen wir an, dieses Interview liest eine Frau Ende 30, die einen Kinderwunsch hat. Können Sie ihr trotz all dieser Infos und Erfahrungen etwas Positives mit auf den Weg geben?

Auf jeden Fall! Natürlich kann sie noch schwanger werden. Ich würde raten, es sechs Monate aktiv zu versuchen und dabei auch den eigenen Zyklus kennenzulernen. Es ist immer wichtig zu wissen, was wann passiert, vielleicht macht man auch schon mal einen Ovulationstest und beobachtet, wann der Eisprung ist. Wenn nach sechs Monaten keine Schwangerschaft eintritt, sollte die Frau einfach den Mut haben, in die Kinderwunschklinik zu gehen. Vor diesem Schritt sollte niemand Angst haben und es bedeutet ja auch nicht, dass es direkt um künstliche Befruchtung geht. Die Ärtz:innen können über die verschiedenen Möglichkeiten in der Situation aufklären – dafür kann man natürlich auch vorab ein Buch lesen oder sich online informieren, es ist ja viel Wissen zu dem Thema verfügbar. Und all das kann dabei helfen, dass es am Ende mit einer gesunden Schwangerschaft klappt.

Love-Note

Uns von fertilitips ist es wichtig, Menschen auf ihrer Kinderwunschreise Mut zu machen und sie zu bestärken – gleichzeitig möchten wir mit Hilfe von Expert:innen aufklären und einen bewussten Umgang mit dem Thema erzeugen. Gerade in einer Zeit von Versprechen wie „You can have it all“ oder „40 ist das neue 30“ vergessen wir oft, dass bei der Erfüllung eines Kinderwunsches vor allem die Natur eine große Rolle spielt. Und daran dürfen wir uns – trotz all der wissenschaftlichen und medizinischen Möglichkeiten – immer wieder erinnern.

Dr. Nadine Al-Kaisi begleitet Paare mit Kinderwunsch
Copyright: Darren Jackli
Im Interview

Dr. Nadine Al-Kaisi 

Dr. Nadine Al-Kaisi ist Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe, sie arbeitet als Kinderwunschärztin in München und hat viele Jahre Erfahrung im Bereich Endokrinologie und Reproduktionsmedizin. Um Menschen mit Kinderwunsch besser über ihre Möglichkeiten und Herausforderungen aufzuklären, hat sie ein Buch geschrieben: „Das Kinderwunschbuch – Dein persönlicher Begleiter: Wege, Diagnostik, Behandlung“. Sie ist selbst Mutter von zwei Söhnen.