Warum wir so selten über den Kinderwunsch reden – und wie wir es uns leichter machen könnten, genau das zu tun

Ein Paar mit Kinderwunsch spricht mit einer dritten Person.

Eine ohnehin schon schwere Zeit wird durch das Schweigen oft noch schwerer: Du spielst die Fröhliche, obwohl dir zum Heulen ist. Du erfindest Ausreden, wenn ein Termin in der Kinderwunschklinik ansteht. Du zuckst mit den Schultern, wenn mal wieder irgendeine eine Bekannte fragt: „Wann ist es denn bei euch so weit?“ Ein noch nicht erfüllter Kinderwunsch ist oft ein Tabuthema. Das kann belastend sein – manchmal aber auch ein sinnvoller Schutzmechanismus. Wir haben zwei Expertinnen gefragt, wann und in welcher Form du offener mit deinem Kinderwunsch umgehen kannst und wie du dich sinnvoll abgrenzt.

Woher kommt dieses Tabu?

„Wir sind gesellschaftlich so geprägt, dass wir ein Konstrukt von ‚Heile Welt‘ aufrecht erhalten wollen“, sagt Laura Letschert, die als systemischer Coach für Veränderungen und Resilienz arbeitet. „Alles, was nicht in dieses Bild passt, haben wir uns oft gesellschaftlich und kulturell angelernt zu verstecken. Es war spätestens mit dem darwinististischen Menschenbild wichtig, uns nicht angreifbar zu machen, sondern (Überlebens-)Stärke zu demonstrieren.“ 

Ein anderer Blick in die Geschichte macht ebenso deutlich, dass Unfruchtbarkeit problembehaftet war: „Bekam ein König oder Herrscher keine eigenen Kinder – oder keine Jungen – dann war das natürlich fatal für die Sicherung der eigenen Linie und schwächte die ganze Familie“, erklärt Laura. „Auch wenn es uns so weit weg von unserer modernen Welt erscheint – solche Erzählungen und Bilder haften noch immer an uns und hinterlassen bei einem unerfüllten Kinderwunsch leider auch heute oft noch ein schambehaftetes Gefühl von Unvollkommenheit oder Mangel in uns: Mit mir stimmt etwas nicht.“

Dabei erleidet jede dritte Frau eine Fehlgeburt und viele Paare werden nur mit Hilfe von künstlicher Befruchtung Eltern

Die Trauer um verlorene oder nicht gezeugte Kinder ist also in unserer Gesellschaft weit verbreitet, sie wird nur nicht an die Oberfläche geholt. 

„Wir hören im Alltagsrauschen nur die positiven Neuigkeiten von Menschen, die sich über ihr erstes oder das nächste Kind freuen“, sagt Laura. „Die traurigen Geschichten teilt man, wenn überhaupt, im kleinsten Kreis, deshalb haben wir oft das Gefühl, dass sie nicht stattfinden. Auch wenn sich hier einiges tut im öffentlichen Diskurs, ist es noch ein tabuisiertes Thema.“

Die Praxis zeigt: Es ist ein Tabu

Dr. Nadine Al-Kaisi ist Kinderwunschärztin aus München. Sie erlebt in der Praxis häufig, dass Paare ihren Kinderwunsch für sich behalten und nicht mit dem nahen Umfeld teilen. „Wir fragen oft danach, ob es in der Familie bereits Probleme mit dem Kinderkriegen gab, weil das für uns ein wichtiger Faktor ist“, sagt sie. „Dann sagen die Patient:innen oft, dass sie noch gar nicht mit ihren Eltern oder Geschwistern über das Thema gesprochen haben – und dass sie deshalb nicht wissen, ob sie in der Familie allein mit dieser Herausforderung sind.“

Auch im Wartezimmer mache sich bemerkbar, wer den Kinderwunsch eher als Tabuthema betrachte: „Wir sehen vielen Menschen an, dass sie so anonym wie möglich sein wollen, dass ihnen der Besuch bei uns irgendwie unangenehm ist. Auch wenn wir versuchen, die Atmosphäre so schön wie möglich zu machen.“ Ihrer Meinung ist es noch immer schambehaftet, wenn es Probleme beim Kinderkriegen gibt. „Viele Betroffene geben sich auch selbst die Schuld dafür, dass es nicht klappt – und dann wollen sie erst recht nicht darüber reden“, sagt die Ärztin.

Es ist immer nur deine ganz eigene Entscheidung

Wir möchten dir hier keinen plumpen Rat geben, ob und mit wem du über den Kinderwunsch, eine Fehlgeburt oder andere Ereignisse in deinem Leben sprechen solltest – das ist immer nur deine ganz eigene Entscheidung.

Wir wollen dir jedoch ans Herz legen, sie bewusst für dich zu treffen. „Ich finde es immer schön, sich vorzustellen, dass unsere eigene Geschichte wie ein Schatz ist“, verrät Laura. „Wir können selbst wählen, mit wem wir diesen Schatz teilen und mit wem auch nicht. Das kann uns keiner nehmen – und das stärkt uns von innen heraus.“ Wichtig ist, dass es bei der Entscheidung wirklich um dich selbst geht. 

Fühl dich nicht verpflichtet, deine Geschichte zu teilen, damit es anderen besser geht oder du der Gesellschaft damit einen wichtigen Dienst erweist. 

„Jeder und jede sollte selbst in sich hineinspüren, wie viel Offenheit einem selbst gut tut. Denn mir sollte auch klar sein: Wenn ich die Entscheidung treffe, offen darüber zu sprechen, dann werde ich möglicherweise häufig mit Fragen konfrontiert“, sagt Laura. „Das führt eventuell dazu, dass ich immer wieder auf dieses Thema angesprochen werde, wenn es mir ohnehin gerade nicht gut geht – und das sollte ich bedenken.“ So kann es sein, dass du in einer Phase, in der du bereits sehr entkräftet bist, noch mehr in deinen Schmerz gehst, wenn du immer und immer wieder Fragen zur letzten Embryonen-Transfer beantworten sollst. Auch wenn es dein Umfeld noch so lieb mit dir meint, indem es Anteil nimmt, kann das für dich eine Belastung sein.

„Grundsätzlich liegt in diesen offenen Gesprächen natürlich unendlich viel Kraft und Wertvolles für beide Seiten. Ich denke, jeder, der sich einmal getraut hat, andere Menschen wirklich in sein Leben und sein Herz zu lassen und dabei eben auch die traurigen und dunklen Momente ans Licht zu holen, weiß, wie heilsam und verbindend das sein kann”, so Laura. „Wer Verletzlichkeit zulässt, gewinnt in Wahrheit an Stärke. Denn wenn wir zeigen können, wie es uns wirklich geht, dann vermittelt uns das ein Gefühl von Authentizität. Dann geht es nicht darum, jemandem etwas vorzuspielen, oder sich verstecken zu wollen. Und wenn wir uns authentisch fühlen, also im Einklang mit uns selbst, dann stärkt das langfristig unsere Selbstwirksamkeit und hat einen positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit.“

Doch mit wem hilft es, über den Kinderwunsch zu sprechen?

Mit wem möchtest du über deinen Kinderwunschreise sprechen, wem möchtest du diesen Schatz anvertrauen und dadurch ganz nah an dich heranlassen? Zu wem hast du Vertrauen und wer tut dir als Gesprächspartner:in gut? Von welcher Person wünschst du dir besonders jetzt eine Umarmung und welche möchtest du eher etwas auf Abstand halten? Wen würdest du gerne etwas fragen, weil diese Person vielleicht ähnlich Erfahrungen gemacht hat oder vielleicht gerade, weil sie eher außenstehend ist? All das sind Fragen, die dir helfen können, für dich die Menschen zu bestimmen, die unterstützende Begleiter:innen sein können.

Für manche Menschen mag das bedeuten, mit einer ganz vertrauten Person zu sprechen – andere wählen für das erste Mal vielleicht lieber jemanden aus, der nicht ganz so nah dran ist. Vielleicht ist es auch zunächst ein Therapeut oder eine Therapeutin.

Zwei Frauen umarmen sich.

Vielleicht ist es auch sinnvoll, ganz bewusst nur einzelne Verbündete auszuwählen, die von deinem Kinderwunsch wissen und die dich jederzeit unterstützen. „Ich glaube, es kann helfen, wenn man sich ein bis zwei Personen in den Kreis holt, bei denen es dann auch egal ist, welche Emotionen man zeigt – weil sie bei ihnen immer gut aufgehoben sind“, rät Kinderwunschärztin Nadine Al-Kaisi. Bei ihren Patientinnen sind es oft die eigenen Mütter, die Bescheid wissen: „Die eigene Mama geht ja meistens ganz unwertend mit der Tochter um und unterstützt sie bedingungslos – deshalb ist es schön, sie an der Seite zu haben.“

Such dir die Menschen, bei denen du dich gleichzeitig sicher und frei fühlst. Egal, ob es deine Ursprungsfamilie oder Wunschfamilie ist, ob es die neue Bekanntschaft in einem Forum ist oder deine Sandkastenfreundschaft. Idealerweise sind es Menschen, die alles mittragen: dass es dir gerade richtig mies geht, du den ganzen Tag auf dem Sofa liegen und weinen willst – oder dass du gerade voller Optimismus auf einen weiteren Versuch hin fieberst. „Am besten macht man es sich selbst so leicht wie möglich und hadert nicht noch zusätzlich mit der Frage: Was ist jetzt der beste Umgang mit meinem Kinderwunsch nach außen und wie kommuniziere ich mit wem?”, ermutigt Laura.

Offenheit in der Beziehung

Und auch dein Partner oder deine Partnerin ist eine, wenn nicht sogar die wichtigste, Person, um das offene Gespräch zu suchen. So selbstverständlich das klingen mag, die Realität kann anders aussehen: „Oft kommen die Paare gemeinsam zu uns, aber wenn die Frau allein zu Terminen erscheint, dann erzählt sie manchmal, dass der Mann so wenig rede, dass sie bei dem Thema nicht an ihn rankomme“, sagt Nadine Al-Kaisi. „Wir empfehlen unseren Paaren tatsächlich auch eine psychologische Unterstützung während der Kinderwunschbehandlung, das kann auch bei Konflikten in der Beziehung hilfreich sein und einen offenen Austausch schaffen.“

„Oft ist der Kinderwunsch nicht nur nach außen ein Tabuthema, sondern auch innerhalb der Beziehung gibt es Dinge, über die man sich leider nicht traut, zu reden“, sagt auch Laura. „Es kann zum Beispiel sein, dass der Mann große Minderwertigkeitsgefühle hat, weil er an seiner Fruchtbarkeit und seiner ‘Männlichkeit’ zweifelt oder er hat jetzt Angst, beim Sex etwas falsch zu machen. Darüber zu reden und solche Tabus vor allem in der Partnerschaft zu durchbrechen, ist ganz wichtig.“ 

Gut ist es, immer sorgsam mit sich und dem Partner oder der Partnerin umzugehen und zu schauen: Was tut beiden jetzt gut?

Für ein Paar geht es dann nicht nur um die die Offenheit innerhalb der Beziehung – sondern auch die Frage, wie sie auch nach außen mit ihrem Kinderwunsch umgehen wollen. „Es kann natürlich sein, dass einer von beiden das Gefühl hat, darüber mit dem Umfeld sprechen zu wollen und die andere Person nicht“, sagt Laura Letschert. „Hier gilt es, auch Unterschiede zu akzeptieren und sich gegenseitig Freiräume zu lassen, und gleichzeitig einen gemeinsamen Weg als Paar zu finden.“ Vielleicht kann die Person, die gerne über den Kinderwunsch sprechen möchte, dafür nahestehende Menschen finden, die mit dem Partner oder der Partnerin eher wenig zu tun haben.

Sei gut zu dir selbst

Noch eine Botschaft zum Schluss: Du darfst dich bei diesem Thema immer wieder fragen, was dir selbst gut tut, und das kann jeden Tag anders aussehen. „Es gibt vielleicht Momente, in denen möchtest du einfach nicht über deinen Kinderwunsch reden, sondern einfach mal tanzen gehen und alles vergessen“, sagt Laura. „In anderen Momenten wünscht du dir den Austausch und die Unterstützung lieber Menschen – und all das gehört zum Leben dazu.“

Love-Note

Ob du dich dafür entscheidest, offen mit deinem Kinderwunsch umzugehen oder ihn lieber für dich behältst: Wir von fertilitips sind an deiner Seite. Wir möchten dir Wissen verschaffen und dich unterstützen, dir Mut machen und dich zu allen wichtigen Themen aufklären. Und wenn du das Gefühl hast, dass du deine Geschichte mit uns teilen willst, dann melde dich gern bei der fertilitips-Redaktion.